Berliner Tagebuch Die Hymne des Sechstagerennens ist traurig und schön Von Christoph Stölzl 23. Januar 2009, 02:52 Uhr Heute gehe ich zum Sechstagerennen. Es ist das erste Mal, dass ich diese Berliner Legende mit eigenen Augen sehe. Zur Einstimmung hab e ich in alten Feuilletons nachgelesen, wie die Schriftsteller der Vergangenheit das Rennen erlebt haben. Alle sind sie dort gewesen, denn hier gab es 'das Volk' zu entdec
[MEHR]ken, wie es wirklich war: wild, laut, ein bisschen unheimlich f ür die zarten Seelen der Intellektuellen. Sling, der Hausautor des Ullstein Verlags, gruselte sich 1924 lustvoll vor manchen Gestalten inmitten der Massen: ' Eins weiß ich: heute wird bei mir zu Hause nicht eingebrochen sind ja alle hier '. Joseph Roth, der melancholische Autor des ' Radetzkymarsches' war sehr irritiert: ' Irrenhaus'. Ich habe mir auch eine Schallplatte mit Berliner Oh rwürmern herausgekramt, auf welcher der Sportpalastwalzer in einer Aufnahme von 1932 zu hören ist. Im Begleitheft ist die Geschichte seines Komponisten z u lesen. Sie beginnt fröhlich und endet traurig. Es ist eine sehr deutsche Geschichte . Siegfried Translateur, aus einer jüdischen Familie aus Schles ien stammend, war 1892 als Musikstudent in Wien. Im Prater kostete ei n Tanz unter freiem Himmel zehn Kreuzer. Für die Armen gab es jeden Abend einm al einen ' Vorzugstanz' um 4 Kreuzer. Ehe er begann, klatschte der Maitre in die Hände, und die Menge gab das Signal klatschend weiter. Das brachte Translateur a uf die Idee, das Klatschen in die Melodie seines frisch komponierten ' Praterlebens' e inzubauen. Es war ein Erfolg auf Anhieb leider kein finanzieller: der junge Ma nn hatte das Stück schon um 20 Mark verkauft. Ab 1900 lebte er in Berlin. Er hat über 200 Melodien komponiert. Keine wurde so berühmt wie der Walzer, der beim Sechstagerennen ge pfiffen und nicht mehr geklatscht wurde Erfindung des Originals ' Krücke' . Es gibt ein vor 1914 entstandenes Photo von Translateur, das ihn im Frac k zeigt. Ein stolzer Bürger, geziert von einem zeittypisch nach oben frisierten Schnurrbart à la Wilhelm II. Da hatte er schon seinen ' Automobilmarsch für Orcheste r' geschrieben: ' Hurrah! Der Kaiser kommt!' Im Ersten Weltkrieg war er Soldat un d Komponist vieler 'vaterländischer' Stücke. Seite 1 von 2 Berliner Tagebuch: Die Hymne des Sechstagerennens i st traurig und s ... 23.10.2009 http://www.welt.de/berlin/article3076238/ Die Hymne des Sechstageren ... Nach 1933 dann der Bruch: der Rassenwahn der Nazis ruinierte den Komponisten. Seine Werke wurden als 'unerwünscht' verboten. Nach Kriegsbeginn musste Translateur in der Rüstung sindustrie schuften. Irgendwann ist er nach Theresienstadt deportiert wo rden und dort am 1. März 1944, achtundsechzigjährig, an ' Entkräftung' gestorben. Eins weiß ich: wann immer ich in Zukunft die mitrei ßende Melodie höre, werde ich an das Schicksal von Siegfried Translateur denken. Bis morgen Ihr Christoph Stölzl Seite 2 von 2 Berliner Tagebuch: Die Hymne des Sechstagerennens i st traurig und s ... 23.10.2009 http://www.welt.de/berlin/article3076238/ Die Hymne des Sechstageren ...